Gleich bin ich an der Reihe… Oh Gott, da draußen sind sooo viele Leute – viel mehr als in der Kirche. Noch nie hab‘ ich vor so vielen Leuten gesungen. Die Kleine da, Shirley, ist gut, sehr gut sogar… jemand begleitet sie auf dem Klavier. Applaus, viel Applaus! Wenn ich nur an das Mikro komme, es ist viel zu hoch… keiner wird mich hören. Ich stell‘ mich einfach auf den Stuhl da, dann geht es vielleicht. Wenn ich nur auch ein Instrument … jetzt bin ich dran…
Tatort: Gesangswettbewerb für Kinder am 3. Oktober 1945 auf der Mississippi Alabama Milk and Dairy Show. Auf der großen Haupttribüne des Volksfestes, vor der bis zu 2.000 Zuschauer Platz finden, steht an diesem sonnigen Nachmittag ein zehnjähriger, schmächtiger Junge mit Hosenträgern – dunkelblond, strenger Linksscheitel, Brille auf der Nase – auf einem Stuhl und singt a capella Red Foleys Country-Song Old Shep, die tieftraurige Geschichte von einem kleinen Jungen und seinem sterbenden Hund. Der Junge auf dem Stuhl ist Elvis Presley bei seinem 1. Live-Auftritt vor größerem Publikum.
Gewinnt er den Wettbewerb, der vom regionalen Radiosender WELO gesponsert wird? Nein! Er macht an diesem sonnigen Nachmittag im Oktober 1945 den 5. Platz (nicht den 2., wie lange angenommen) mit seinem Lieblingssong aus Kindertagen, den er 11 Jahre später auch auf Platte gebannt hat. Hier die Version von 1956:
Elvis Presley: Old Shep 1956 – Boxset Complete Masters
Im Oktober 1945 geht der 1. Platz des Talentwettbewerbs an Elvis‘ jüngere Schulkameradin Shirley Gillentine – das Mädchen mit der Pianobegleitung – für ihre Darbietung von My Dreams Are Getting Better All The Time, ein Song bekannt vor allem durch die Version von Doris Day (1945). Den 2. belegt die 13-jährige Nubin Payne, die schon so etwas wie ein Veteran in Sachen Auftritte bei Amateur-Veranstaltungen ist, und den 3. Platz macht der 12-jährige Steel-Gitarrist Hugh Jeffreys – heute Dr. Hugh Jeffreys -, der später einen Universitätsabschluss als „Master of Science in Jazz and Commercial Composition and Arranging“ erwirbt und – wie Elvis – Berufsmusiker wird.
In der Jury sitzen an diesem Oktobertag 1945 nicht Dieter Bohlen & Co. – nein, die Jury stellt hier das Publikum selbst: die bunt gemischte Besuchermenge des wahrscheinlich größten Volksfestes mit Kirmes und Landwirtschaftsschau in ganz Mississippi und Alabama dieser Zeit. Ein Spektakel für Groß und Klein, das jedes Jahr am letzten Septemberwochenende beginnt und fast eine Woche bis in den Oktober hinein dauert. Wer und was hier ankommt, darüber wird unmittelbar und lautstark mit den Händen und manchmal wohl auch mit den Füßen abgestimmt – eine Erfahrung, die den Live-Performer Elvis Presley für sein Leben prägt.

Die Gewinner des Talentwettbewerbs der Mississippi Alabama Milk and Dairy Show am 3. Oktober 1945: Shirley Gillentine (1. Platz, 4. von links), Nubbin Payne (2. Platz, mit Gitarre rechts im Bild), Hugh Jeffreys (3. Platz, neben Elvis), Elvis Presley (rechts außen)
Frühe Förderer
1945 ist ein gutes Jahr für die so manches Mal vom Schicksal gebeutelten und unter chronischem Geldmangel leidenden Presleys. Finanziell geht es zumindest so weit aufwärts, dass Elvis‘ Vater Vernon für seine Kleinfamilie auf Kredit ein Haus in East Tupelo kaufen kann. Sohnemann Elvis besucht seit 1941 die East Tupelo Consolidated-Grundschule (später unbenannt in Lawhon) als unauffälliger, durchschnittlicher, aber – zumindest in den in den Augen seiner gestrengen Klassenlehrerin Oleta Grimes – ausgesprochen liebenswerter Schüler.
Die Consolidated, obwohl auf „der falschen Seite der Eisenbahnlinie“ angesiedelt, ist eine für damalige Tupeloer Verhältnisse sehr fortschrittliche Schule mit Annehmlichkeiten, die so mancher Schüler von zu Hause aus nicht kennt: Heizung, fließend Wasser und elektrisches Licht. Außerdem versucht man hier, Kindern aus ländlichen Familien, in denen Schulbildung damals nicht viel gilt, schließlich sollten die Kinder möglichst früh zum Familieneinkommen beitragen, zumindest eine solide Grundausbildung mit auf den Weg zu geben. So auch Oleta Grimes. Doch Oleta fordert nicht nur, sie fördert auch – vor allem ihre musisch begabten Schüler.
Elvis fällt auf, als er bei der Morgenandacht nach dem Gebet spontan den Song Old Shep anstimmt und seine Klassenlehrerin – wohl zu ihrer eigenen Überraschung – mit seiner Interpretation zutiefst berührt. Sie schleppt den 10-jährigen daraufhin zum Schuldirektor, der den Steppke zum nahenden Talentwettbewerb für Kinder der Mississippi-Alabama Milk and Dairy Show anmeldet, an dem auch Schüler anderer Schulen aus der Umgebung teilnehmen.
Das also bringt Elvis am 3. Oktober 1945 auf die Hauptbühne des größten Volksfestes in der Region – und das ganz ohne Eintritt bezahlen zu müssen. In diesem Jahr muss er also nicht heimlich über den Zaun klettern… Aber warum singt er ausgerechnet Old Shep und was haben ein Pfarrer, Mississippi Slim und der Radiosender WELO damit zu tun?
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