Elvis: Back in Memphis (1969)
Es gibt die Anekdote, dass man Elvis Presley ordentlich in Verlegenheit bringen konnte, wenn man ihn danach fragte, auf welchem seiner Alben ein bestimmter Song denn zum ersten Mal erschienen sei. Wenn die Anekdote stimmt, dann fragt sich jeder normale Mensch spontan, wie verpeilt ein Musiker eigentlich sein muss, um das nicht beantworten zu können.
Aber Vorsicht: Wer sich nur ein wenig mit der Diskografie Elvis Presleys beschäftigt, der erkennt sehr schnell, warum diese Frage nicht nur für Elvis selbst, sondern auch für Elvisisten, also die Leute, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit allem rund um den King beschäftigen, nicht immer einfach zu beantworten ist.
Woran liegt’s? Ein wesentlicher Grund ist wohl, dass Elvis seine Karriere Mitte der 1950er in einer Ära startete, in der die Single eine viel größere Bedeutung hatte als das Album, das viele sich damals nicht so oft leisten konnten. Zudem erschienen die Songs der Elvis‘ Singles bis in die 1960er häufig nicht – wie man heute erwarten würde – zusammen mit den anderen aus derselben Aufnahmesession auf dem entsprechenden Studioalbum.
So war etwa der Monsterhit Heartbreak Hotel ursprünglich nicht auf Elvis‘ erstem Album Elvis Presley (1956), Are You Lonesome Tonight nicht auf dem inzwischen zum Kultalbum avancierten Elvis Is Back (1960) und Suspicious Minds, der Song, der vielen heute als DER Elvis-Song schlechthin gilt, nicht auf Back In Memphis (1969) zu finden.
Irgendwann wurden diese Single-Hits dann natürlich schon in Albumform auf Hit-Kompilationen zusammengefasst, beginnend zu Elvis‘ Lebzeiten, im Laufe der Jahrzehnte in immer wieder neuen Kombinationen, die oft nebeneinander angeboten werden. Der Wille zur einfallsreichen Vermarktung kannte und kennt kaum Grenzen. Ein kurzer Blick in den Elvis-Katalog unter Amazon lässt das Ausmaß erahnen… und da haben wir noch nicht einmal über die vielen länderspezifischen Zusammenstellungen gesprochen.
Bei Elvis hieß es immer schon: anything goes – und diese Tradition hat leider auch ein paar richtige Nachteile. Wer neu ist und die Historie (noch) nicht kennt, der hat es oft ganz schön schwer mit Orientierung und Einstieg. Das gilt besonders für alle, die einen Zugang über Originalalben und nicht über Compilations in Form von Boxsets bevorzugen.
Bei wem es also gerade eben beim Albumtitel Back In Memphis nicht sofort geklingelt hat, befindet sich somit in ziemlich guter Gesellschaft. Bei den meisten dürfte es wohl am ehesten wegen des Zeitraums, in dem das Album erschienen ist, klingeln: Elvis‘ berühmte Comeback-Periode 1968/69 mit Beendigung seiner Filmkarriere – gekrönt durch das TV-(Comeback)Special ELVIS – und der Rückkehr auf die Bühne.
Elvis Back In Memphis: kleine Schwester und großer Bruder
Doch nicht nur wegen der angesprochenen Veröffentlichungspolitik in Sachen Singles und Alben ist Back im Memphis heute eines der weniger bekannten Elvis-Alben. Dafür gibt es noch zwei weitere ganz wesentliche Gründe.
Back In Memphis ist nämlich »nur« das zweite Album aus einer der berühmtesten Elvis-Studiosessions überhaupt, die mit einer ganzen Serie großer Hits aufwarten kann, und zwar der in Chip Momans American Sound Studio Anfang 1969 – Elvis erster Aufnahmesession in Memphis seit seinem Wechsel von SUN zu RCA Ende 1955. Deswegen stand Back In Memphis schon immer im Schatten seines kultigen Vorgängers, des zuerst erschienenen »American-Albums«: From Elvis In Memphis (Juni 1969).
Erschwerend kommt hinzu, dass Back In Memphis im Oktober 1969 zunächst nur als 2. Teil eines Doppelalbums unter anderem Namen erschien, und zwar als From Vegas To Memphis auf der Doppel-LP From Memphis To Vegas/From Vegas To Memphis. Wie der Name schon assoziiert, war Back In Memphis alias From Vegas To Memphis hier gekoppelt mit einer Live-LP, die verschiedene Songs aus Elvis Presleys erstem Las Vegas-Engagement vom August 1969 enthielt. Diese Doppel-LP sollte schlicht zwei Seiten einer Medaille zeigen (→ siehe hierzu auch Elvis On Stage): einen Elvis, der sowohl im Studio als auch live neue Akzente setzte.
Diese Rechnung ging auf – die Doppel-LP erreichte in den USA Ende 1969 Platz 12 der Billboard-Pop und Anfang 1970 Platz 6 der Billboard-Country-Charts. Damit war Back In Memphis in Kombination mit der Live-LP sogar erfolgreicher in den Pop-Charts als der große Bruder From Elvis In Memphis, der hier bis auf Platz 13 kam, in den Country-Charts allerdings mit Platz 2 nur knapp die Top-Position verfehlte (Quelle: Joel Whitburns Billboard-Chart-Statistiken).
Der Erfolg der Doppel-LP From Memphis To Vegas/From Vegas To Memphis führte dazu, dass man die beiden LPs schon im November 1970 wieder entkoppelte und neu als Elvis In Person At The International Hotel und Back In Memphis herausbrachte.
Entkoppelt und unter neuem Titel chartete Back In Memphis noch einmal und kam immerhin in die Top 200 der LP-Charts. 2009 hat Sony Back in Memphis im Rahmen seiner Legacy-Serie, in der immer zwei Alben kombiniert werden, auf CD neu herausgebracht: diesmal gekoppelt mit dem großen Bruder From Elvis In Memphis.
Ende 2012 haben Ernst Jørgensen und Roger Semon, die bei Sony/RCA für das Elvis-Sammlerlabel Follow That Dream (FTD) verantwortlich zeichnen, diesem Klassiker aus der 2. Reihe 2012 in der FTD-Classic-Album-Serie einen exponierten Platz an der Sonne gegönnt, indem sie Back In Memphis einzeln mit Bonus Songs, vielen First- und Outtakes sowie Unfinished Masters – vor allem aber vor dem Kultklassiker From Elvis In Memphis – veröffentlicht haben. Einmal darf die kleine Schwester also vor dem großen Bruder ins Scheinwerferlicht.
Aber was genau ist dran an der vielgelobten Studiosession im American Sound Studio und vor allem, was ist davon auf Back In Memphis gelandet?
Back In Memphis: Elvis im American Sound Studio
Als Elvis Presley sich Ende der 1960er Jahre entschloss, Hollywood den Rücken zu kehren und seine Energien stattdessen ganz auf die Revitalisierung seiner Karriere als Musiker zu richten, fiel nach Gesprächen mit verschiedenen, ebenfalls im Musikbusiness tätigen Mitgliedern seiner Memphis-Mafia-Entourage (hier vor allem Marty Lacker) und seinem »Haus- und-Hof-Produzenten« Felton Jarvis, schnell die Entscheidung, nun auch in Sachen Aufnahmestudio neue Wege außerhalb Nashvilles oder Hollywoods zu gehen.
In Memphis hatte sich zwischenzeitlich neben dem bekannten R&B-Studio Stax das American Sound Studio von Chips Moman einen Namen gemacht. Dort produzierte der Gitarrist und Songschreiber Moman – er hatte zuvor erfolgreich für das Stax-Label gearbeitet – reihenweise Hits u.a. mit Künstlern wie Dusty Springfield und Neil Diamond. Von den späten 1960ern bis Anfang der 1970er produzierte Moman hier um die 120 Top-Ten-Hits.
Allerdings galt Moman als nicht immer ganz einfacher Charakter, der stets ein ganz klares Ziel vor Augen hatte, nämlich die perfekte Aufnahme mit einem unverwechselbaren American-Sound zu kreieren. Das Studio machte zwar von außen nicht gerade einen sehr vertrauenserweckenden Eindruck, war aber von innen gut mit einer damals neuen 8-Spur-Bandmaschine ausgestattet, die es Moman ermöglichte, regen Gebrauch von modernen Aufnahmebearbeitungstechniken zu machen (z.B. Overdubbings).
Außerdem hatte Moman eine ganze Reihe namhafter Sessionmusiker wie Reggie Young, Bobby Wood, Mike Leech und Tommy Cogbill dauerhaft an sein Studio binden können. Wie Elvis Presley waren sie Südstaatler mit dem gleichen musikalischen Hintergrund, tief verwurzelt in Country, Gospel und Rhythm & Blues.

Elvis mit den Musikern des American Sound Studios in Memphis (v.l.n.r.): Bobby Wood, Mike Leech, Tommy Cogbill, Gene Chrisman, Elvis, Bobby Emmons, Reggie Young, Ed Kollis und Dan Penn – Foto: Ernst Jorgensen: Elvis Presley, A Life In Music 1998
So ergab sich im Januar 1969 eine Konstellation aus einem sehr erfolgreichen, führungsstarken Produzenten und einem Star, der normalerweise alle wesentlichen Entscheidungen im Studio selbst traf, der es gewohnt war, sich seit seinem Wechsel zu RCA Ende 1955 mehr oder weniger selbst zu produzieren. Würde das gutgehen?
Schließlich trafen hier zwei sehr gegensätzliche Aufnahmephilosophien aufeinander: ein Musiker, der stets nach dem Credo arbeitete »I act strictly on intuition and impulse«, also gerne spontan agierte, und ein Produzent mit von vornherein sehr genauen Vorstellungen, wohin die Reise gehen sollte.
Doch die Aufnahmesession, die in Etappen zwischen dem 13. Januar und 22. Februar 1969 stattfand, verlief zum Erstaunen der Anwesenden auf musikalischer Ebene ziemlich reibungslos, da Chips Moman sich zurückhielt, ohne jedoch die Führungsrolle in seinem Studio abzugeben, und Elvis Presley neben stimmlicher Präsenz mit Professionalität und Engagement glänzte. Störfeuer gab es allerdings seitens Elvis‘ Musikverlegern, die sich mit Chips Moman über Songrechte in die Haare kriegten, aber das ist eine Geschichte für sich…
Mit mehr als 30 eingespielten Songs, die vom zeitgenössischen Soul bis zu Country-Standards reichte, darunter solche, die Elemente aus Rock, Blues und Country so einsetzten, dass sie keinem speziellen Genre zuzuordnen waren, war die Session bei Moman ausgesprochen produktiv.
Sie brachte zudem eine ganze Reihe von Elvis‘ größten Hits hervor, darunter In the Ghetto – Elvis Presleys einziger Nummer-1-Hit in den deutschen Charts zu Lebzeiten – und Suspicious Minds, das 1999 in die NARAS Hall of Fame für Aufnahmen von besonderer Qualität und historischer Bedeutung aufgenommen wurde.
In den USA erreichte In the Ghetto im Frühjahr 1969 als Single-A-Seite Platz 3 der Billboard-Pop-Charts und Platz 2 der Country-Charts, Suspicious Minds setzte sich als Single-A-Seite im Spätsommer 1969 an die Spitze der Pop- und auf Platz 4 der Adult Contemporary-Charts (Quelle: Joel Whitburns Billboard-Chart-Statistik).
Zum besseren Überblick kommen hier die Songs aus der American-Studiosession chronologisch gelistet. Blau markiert sind dabei die 10, die im Oktober 1969 auf dem Doppelalbum From Vegas To Memphis und ein Jahr später auf der LP Back In Memphis veröffentlicht wurden.
American Sound Studio: Januar 1969
- Long Black Limousine
- This Is The Story
- Wearin‘ That Loved On Look
- You’ll Think Of Me
- A Little Bit Of Green
- Gentle On My Mind
- I’m Movin‘ On
- Don’t Cry Daddy
- Inherit The Wind
- Mama Liked The Roses
- My Little Friend
- Rubberneckin‘
- In The Ghetto
- From A Jack To A King
- Hey Jude
- Without Love
- I’ll Hold You In My Heart
- I’ll Be There
- Suspicious Minds
American Sound Studio: Februar 1969
- Stranger In My Own Home Town
- True Love Travels On A Gravel Road
- This Time / I Can’t Stop Loving You
- And The Grass Won’t Pay No Mind
- Power Of My Love
- After Loving You
- Do You Know Who I Am?
- Kentucky Rain
- Only The Strong Survive
- It Keeps Right On A-Hurtin‘
- Any Day Now
- If I’m A Fool (For Loving You)
- The Fair Is Moving On
- Who Am I?
Elvis Back In Memphis: der fehlende und der heimliche Hit
Und – ist was aufgefallen? Klar: der Monsterhit Suspicious Minds ist nicht auf dem Album, während die B-Seite der Suspicious Minds-Hitsingle – nämlich You’ll Think Of Me – enthalten ist. Warum also die B-Seite und die A-Seite nicht?
Jetzt wird’s noch komplizierter: Suspicious Minds fehlte auf dem Studioalbum From Vegas To Memphis alias Back In Memphis, weil es auf der Live-LP des Doppelalbums From Memphis To Vegas/From Vegas To Memphis enthalten war – und zwar mit einer Live-Version, die über fast 8 Minuten geht, dabei allerdings nicht gespielt von der Moman-Band, sondern mit Elvis‘ eigenen Musikern der berühmten TCB-Band um Leadgitarrist James Burton, Bassist Jerry Scheff und Drummer Ronnie Tutt sowie anderen Backgroundsänger/innen.
Man hatte die Studioversion also auf der Doppel-LP unter den Tisch fallen lassen, weil es sonst eine unschöne Doppelung von Suspicious Minds gegeben hätte. In der Neuveröffentlichung des Albums Back in Memphis auf dem Sammlerlabel Follow That Dream (FTD 2012) wurde die Studioversion von Suspicious Minds allerdings als Bonussong ergänzt, was das Bild vom Album nun vervollständigt.
Suspicious Minds, Studioversion Bonussong FTD Back In Memphis 2012
Wie sich das im Vergleich live mit der TCB-Band anhörte, kann man anhand dieser ultralangen Version vom 26. August 1969 hören, sie wurde u.a. auf der FTD Elvis Live In Las Vegas: Dinner Show August 26, 1969 veröffentlicht.
Suspicious Minds, live vom 26. August 1969 FTD Elvis Live In Las Vegas
Neben dem lange auf dem Studioalbum fehlenden Monsterhit Suspicious Minds hat Back In Memphis aber noch viel mehr zu bieten, darunter Elvis‘ 4:27 Minuten lange Version von Percy Mayfields Stranger In My Own Home Town, eine Aufnahme, die vielen längst als der heimliche Hit des Albums gilt und die eindrucksvoll belegt, weshalb sich viele ein volles Blues-Album vom King gewünscht hätten.
Auf der FTD-Ausgabe enthalten ist der Jam-Take aus den Studioproben mit der Band des American Sound Studio und die von Chips Moman bearbeitete Endfassung, die auf dem Album landete – hier beides im Vergleich.
Stranger In My Own Home Town – Jam-Take, FTD Back In Memphis 2012
Stranger In My Own Home Town – Albumversion, FTD Back In Memphis 2012
Im Juli 1970 hat Elvis diesen Song, der für ihn ganz offensichtlich autobiographische Züge trug, noch einmal im Rahmen der Proben für den Dokumentarfilm Elvis That’s The Way It Is eingespielt, hier allerdings wieder mit Musikern seiner TCB-Band und versehen mit einigen Textänderungen der besonderen Art. Diese Version wurde auf dem Box-Set Walk A Mile In My Shoes veröffentlicht und ist nicht auf der Back In Memphis zu hören.
Stranger In My Own Home Town vom Juli 1970, Boxset Walk A Mile In My Shoes
Fazit: Back In Memphis ist ein hörenswertes, bis heute eher unterschätztes Elvis-Album »aus der 2. Reihe«, das durch die Neuveröffentlichung über das Elvis-Sammlerlabel Follow That Dream (FTD) einen eigenen Platz an der Sonne bekommen hat.
Sehr interessant und sehtr detailiert.großes wissen dahinter.toll